Über Engel aus Eisen und Schmetterlinge aus Beton

Welche Schuld trägt die Kultur?                

eine Selbstanzeige

Wenn man an einem Frühlingstag durch Berlin läuft, gleicht die Stadt einem Funpark. Es scheint, dass hier in Berlin, das die längste Zeit seiner modernen Geschichte immer auch ein Industriestandort war, sämtliche Verhältnisse realer Produktion (also Verhältnisse zu den stofflichen Grundlagen der Bedürfnisbefriedigung) durch Verhältnisse des Konsums ersetzt wurden.

Konsumiert werden nicht nur die üblichen touristischen Waren und Dienstleistungen, sondern auch auch Stimmungen, Orte und Bilder. Konsumiert werden hier vor allem emotionale und historische Bedeutungen. Die Schattenseite der schier unbegrenzten Optionalität dieses Konsums ist der Ausschluss der weniger gut betuchten Bewohner_innen aus ganzen Stadtvierteln und auch das ist wirklich neu in Berlin.

Aber man kann darüber auch reden, wie der Berufsbohemien Friedrich Liechtenstein („Supergeil“): „Es ist doch schön, wenn auch einmal etwas klappt.“, und es klappt wie am Schnürchen.

An der Hinterhoffassade eines Off-Theaters im Prenzlauer Berg hat man die Einschusslöcher aus dem zweiten Weltkrieg mit Blattgold ausgekleidet.

In seinem Essay „die Ordnung herrscht in Berlin“ stellt der Philosoph Francesco Masci die These auf, dass man in Berlin exemplarisch den Anbruch eines Zeitalters fiktiver Subjektivität erleben kann. Als geografisch identifizierbarem Nichtort würde Berlin von subjektiven aber niemals singulären Existenzen bevölkert, die die verstreuten Fragmente von Bedeutung konsumierten, jedoch als Bilder ohne Kontext, abstrakt und austauschbar.

Durch die absolute Kultur werde Politik durch ihre Mimesis ersetzt, werde alles Politische imaginär. Masci spielt auf die Volksbühne an, wo das Publikum gesittet seiner Wege geht, nachdem es „dem Vortrag des gerade angesagtesten kommunistischen Philosophen“ gelauscht hat.

Ausgehend von einer Kritik am Selbstverständnis der Aufklärung und der französischen Revolution, schiebt Masci dem bürgerlichen Selbstverwirklichungs- und Freiheitsideal, sowie dem Kunst- und Kulturbetrieb schlechthin den schwarzen Peter der Verantwortung für die Herrschaft des Nichts in die Schuhe: Nur durch sie sei die Vervollkommnung des Spektakels und die Herrschaft des Kapitalismus durch ideologisch vermittelten Entzug der Wirklichkeit selbst möglich geworden. Mascis Analyse bleibt in ihrer Konsequenz zynisch und nicht handlungsweisend. Kultur bleibt ein subalternes Konzept, das auch nach einer Sanktionierung durch die Macht in Form von „Kunst“ nicht souverän wird. (Es wurden diesbezüglich in letzter Zeit einige Versuche unternommen...)

Und doch ist die Kultur nicht unschuldig. Wie lässt sich ihre Mittäterinnenschaft am kapitalistischen Wirklichkeitsverlust begreifen?

 

Die Maske des Henkers

In seinem Film „Engel aus Eisen“, für den er 1981 den Bayrischen Filmpreis erhielt, erzählt

Thomas Brasch die Geschichte der Gladow Bande. Einer der spektakulärsten Kriminalfälle der Berliner Nachkriegsjahre. Die Handlung des Filmes ist eingerahmt durch die Ereignisse der Berliner Luftbrücke. Die Tonspur ist unterlegt mit dem ständigen Brummen der Rosinenbomber. Die Verbrecherbande wird zusammengehalten durch die Komplizenschaft zwischen dem Halbstarken Werner Gladow und dem Volkspolizisten Gustav Völpel, der nach dem Krieg für die rote Armee als Henker tätig war.

Völpel war zwar auch vor dem Krieg schon Henker, hatte jedoch unter den Nazis selbst im Gefängnis gesessen, weil er sich geweigert hatte, seinen Beruf weiter auszuüben.

Beide Männer sind aus unterschiedlichen Gründen moralisch entwurzelt.

Die schwarzweiß Bilder des Films erzählen von einer großen Kargheit. Man sieht die frisch aufgeräumten und leergefegten Straßen des Trümmer-Berlins, auf denen noch nicht wieder Autos parken.

In einer Szene nimmt der junge Werner Gladow die Frau des Vopos in dessen Wohnung als Geisel, um Völpel zu zwingen, den Einbruchsplan zu beschaffen. Als Völpel die Wohnung verlassen hat, erzählt die Frau von der Vergangenheit ihres Mannes. Mit Gewalt zwingt der skrupellose Jugendliche Gladow sie, die Kiste mit dem Henkerbeil vom Hängeboden zu holen.

Als sie ihm das Beil zeigt, kommt auch ein anderes absurdes Detail zum Vorschein: Die Maske des Henkers. Sie blitzt unter dem Beil hervor und ist merkwürdig detailliert gestaltet: Den oberen Teil bildet eine Pappmaske für die Augen. Die Augenlöcher sind umrandet und in der Mitte zwischen ihnen ist ein verschnörkeltes Kreuz aufgemalt. Unterhalb der Augenmaske ist glänzender Stoff angebracht, der den Rest des Gesichtes verdeckt. Die Maske wirkt auch im schwarzweiß Bild sehr bunt. Gladow fragt die Frau: „Wer hat die gemacht?“. Sie sagt: „Na ich.“.

Interessant ist hier nicht die ödipale Aufladung der Szene und dass die Frau sich in einer Vergewaltigungssituation vor einem Vertreter der nachkommenden Generation zu ihrer Mittäterschaft an den legalen Morden ihres Mannes bekennt. Interessant ist hier die Präzision, mit der sich hier ein scheinbar zweckfreier Gestaltungswille im Dienst der Macht behauptet. Interessant sind die Zeichen auf der Maske des Henkers, denn dies sind die Zeichen der Kultur...

 

Fazit

Angela Merkel, aber auch Wladimir Putin scheinen nicht Kraft einer kohärenten Programmatik zu herrschen, sondern durch Bilder und Gesten der Macht, die für sich stehen, oft widersprüchlich sind, nicht aus einem übergeordneten Bekenntnis abgeleitet werden können und sich trotzdem zu historisch sehr konkreten hegemonialen Komplexen verdichten, auch wenn beide nicht am selben moralischen Pol wohnen.

Die Repräsentant_innen der Macht beweisen Mut zur Unvollständigkeit und übertreffen sich gegenseitig im permanenten Erzeugen von Lücken der Repräsentation. Die Lücken der Repräsentation werden vom Nichts, als eigentlichem Inhaber der Macht gefüllt. Das Nichts ist die letztgültige, immaterielle Ursache aller produktiven und zerstörerischen Bewegung: der Algorithmus des Kapitals, die mathematische Funktion der Steigerung, Zentralisierung und Konzentration einer fiktiven Geldmenge ins Unermessliche.

Das Nichts tanzt in den den Lücken der Repräsentation und trägt dabei die ideologische Maske des Henkers. Doch die Maske des Henkers ist nicht nackt, sie ist bemalt mit den Zeichen der Kultur.

Die Maske des Henkers besteht nahezu vollständig aus den vielfältig wechselnden Verschleierungen der Kultur, als Produktion immer neuer Farben und Bedeutungen. Am Ort der ideologischen Repräsentation wird der gültige Freiheitsbegriff definiert und durch Gewalt sanktioniert.

Durch die permanente Bedrohung des Nichts, als formlos tanzendem Körper und Träger der Maske, sind die Subjekte ständig bestrebt ins Angesicht der Maske des Henkers zu blicken und sich darin zu spiegeln, denn nur im Blickfeld der vermeintlichen Kultur wähnen sie sich vor Schlägen aus dem Hinterhalt, vor dem Fall in die mittellose Leere der Bedeutungslosigkeit geschützt. Doch in in diesem Verhältnis der bloßen Abhängigkeit von Kultur bleibt ihre Subjektivität eine Fiktion.

Die rechtsradikalen Bewegungen und der IS machen hier einen Fehler: Sie wischen die geschminkten Tränen der Kultur von der Maske des Henkers und wollen sich zur nackten Henkerschaft der Macht bekennen. Doch darin werden sie den Bedürfnissen des gesamten politisch ökonomischen Apparates derart gerecht, dass sich das fragile sozialdemokratische Gleichgewicht dieses kapitalistischen Perpetuum mobile leicht zu einer Resonanzkatastrophe verleiten lassen könnte. Dies wäre eine Bewegung wechselseitiger Verstärkung, die von ihrer Zeugenschaft sicher nicht viel übrig ließe.

Doch Zeugen unserer Zeit zu bleiben, bleibt wohl unsere Aufgabe, für deren Bewältigung es sich zu kämpfen lohnt, auch als Kulturschaffende. Nur sollten wir – wenn man uns denn füttert - bei aller Freiheit nie vergessen, an wessen Tafel wir zu Gast sind und welche Masken wir bemalen. Oder, um mit Alice Creischer zu sprechen: "Es gibt keine Möglichkeit, irgendeine Form der künstlerischen Arbeit zu machen, die nicht von Macht und Herrschaftsstrukturen affiziert ist.".

 

Werner Gladow wurde 1950 als erster Bürger in der DDR hingerichtet.

Nach der Verkündung seines Urteils soll er gesagt haben:

„Wissen Se, Herr Richter - die dreifache Todesstrafe - einmal lass ich mir das ja gefallen, die Birne abhauen, aber die anderen beede Mal würde ick sagen, det is Leichenschändung.“

to be continued...