Die Zeit braucht neue Schuhe

Ilja sollte die Kühe bewachen. Er sah nach oben. Die Zeit war gekommen. Vom hohen Himmel fielen drei Tropfen Regen in den Staub und die Luft roch nach Petroleum. Als der Zug vorbeigefahren war, stand die Zeit dahinter im Wind.

„Sag, mit wem wirst du am Samstag tanzen?“, fragte die Zeit, die heute Olja heißt.

„Mit meiner Großmutter!“

„Du ranziger Kojote!“, rief Olja. „Schau dir meine Schuhe an, so wird das nichts!“

„Hast du jemals von den bunten Brunnen gehört?“, wollte Ilja wissen.

„Mag schon sein, los komm doch mit in die Stadt und kauf mir Schuhe, dann werde ich vielleicht sogar mit dir tanzen, obwohl du nach Kühen stinkst.“

„Die bunten Brunnen erfüllen Wünsche.“, sagte Ilja.

„Das trifft sich gut, denn Ich wünsche mir schneeweiße Stiefel! Los zeig mir deine bunten Brunnen!“

Olja nahm Ilja bei der Hand und als sie hinter dem Horizont. verschwunden waren, verwandelten sich die Kühe in Panzer. Sie gingen lange, aber weder Ilja noch Olja kannten den Weg. Die Häuser sahen nie gleich aus und waren doch nicht zu unterscheiden, so wie die Spielplätze, die zwischen ihnen angelegt worden waren. An einer Bushaltestelle wartete ein zahnloser alter Mann, aber eigentlich wartete er schon lange nicht mehr, sondern verkaufte hier nur Superkleber auf seinem Bauchladen. Den Weg zu den bunten Brunnen kannte er nicht und grinste nur, als könne er gar nicht mehr damit aufhören. Im Schein einer Parkplatzlaterne ritzte Olja ein Portrait von sich und Ilja in den lilanen Lack von einem Zhiguli und er schloss die Zündung kurz. Sie fuhren vorbei an mickrigen Blockhütten und riesigen Parabolantennen hinter hohen Mauern und als sie zu einem breiten Fluss mit einer Brücke kamen, stand dort ein paar schneeweiße Stiefel neben einem schwarzes Kleid und einem Telefon auf dem Boden am Brückengeländer, aber die Stiefel passten Olja nicht.

„Wo sind jetzt deine bunten Brunnen? Mach gefälligst, dass meine Füße kleiner werden, damit mir immer alle Schuhe passen!“, sagte sie.

„Die bunten Brunnen sind nah, aber man kann noch immer viele Fehler machen.“, sagte Ilja. „Du musst jetzt etwas für mich tun.“ „Muss ich das?“, fragte Olja. „Ja, bitte gib mir deinen Wald.“ „Was ist ein Wald?“ fragte Olja und machte ein Foto mit dem Telefon.

„Gib mir deinen Fluss“, sagte Ilja. „Was ist ein Fluss?“, fragte Olja und warf ihre Kippe ins Wasser.

„Gib mir deinen Himmel“ sagte Ilja. „Was ist ein Himmel?“, fragte Olja und öffnete ihre Zöpfe.

Am Ende der Siedlung begann der Wald und als alle Birken rubinrot glühten schmiegte sich Olja in Iljas Arme und er gab ihr einen Kuss, den sie nicht erwiderte. Sie gingen und gingen und jeder Schritt machte den Himmel höher und das Land leerer. Dann kamen sie zu den bunten Brunnen, aber die waren außer Betrieb, wegen Stromausfall und das Schuhgeschäft auf dem Platz war schon leer geräumt und geschlossen. Nur die zertrümmerten Neonbuchstaben erzählten noch davon, in verschlungener Schrift. Olja fand, dass Ilja versagt hatte. Wer klaut schon einen alten Zhiguli?!

Enttäuscht und beleidigt wandte sie sich von ihm ab, denn sie wollte ihn nie wieder sehen und da er einfach nicht aus ihrem Blickfeld verschwinden wollte, begann sie, sich im Kreis zu drehen. Nachdem Ilja keine Möglichkeit mehr für sich gesehen hatte, ging er fortan dazu über Schuhe mit Superkleber an den Äste der Birken zu befestigen, weil ihm diese Aufgabe hinreichend komplex erschien. Der Marktwert seiner Werke entwickelt sich fantastisch. Aber Olja dreht sich noch immer zwischen den Brunnen im Kreis, schneller und schneller. So schnell, dass der Strom angeht. Die Brunnen werden wieder bunt und die Leute kommen aus den Häusern. Fontänen schießen in die Höhe, Musik spielt feierlich und im Schuhgeschäft gibt es auch wieder Schuhe zu kaufen, aber Olja dreht sich schneller und schneller. Sie denkt: „geh mir aus den Augen.“ und dann vergisst sie, an wen diese Worte gerichtet waren, sie vergisst Ilja und sie vergisst den Wald und sie vergisst den Fluss und sie sieht nur noch den Himmel, der sich zu schnell dreht und ihr noch immer, schon wieder zum Abschied winkt.

Der Zhiguli steht am Bushäuschen und brennt.